Welche Trends werden in den kommenden Jahren das Marketing im Handel verändern?
Lohmann: Das Marketing befindet sich im Umbruch – das ist hinlänglich bekannt. Was nach wie vor bleibt ist jedoch die Kundschaft zu begeistern. Begeisterung entsteht, wenn wir Kunden überraschen, Ihre Erwartungen übertreffen, sowie relevante Vorteile generieren. Das schafft einerseits eine tragfähige Kundenverbindung und ist andererseits wirtschaftlich sinnvoll.
Auf dem Weg dieser Win-Win-Situation muss der Handel eine zentrale Frage beantworten: was könnte den Einzelnen interessieren? Hier kommt die Digitalisierung ins Spiel:
- eine Marketing-Technologie für die 360 Grad-Sicht auf Kundin und Kunde
- eine personalisierte, individuelle Kommunikation
- einen kundenrelevanten Kanal (On/Off/Mobile)
Diese Punkte spiegeln sich auch in den Trends und Projekten im Handelsmarketing* wider: Personalisierung/Individualisierung (81 Prozent) sowie Marketing Technologie (81 Prozent) als auch Media-Transformation (72 Prozent) stellen nach Ansicht von 32 CMOs führender Handelsunternehmen die vorderen Plätze der Marketing-Trends der kommenden Jahre dar. Es zeigt sich, dass die Unternehmen den zuvor identifizierten Trends auch in ihren aktuellen Marketingprojekten folgen.
Die Kundenbegeisterung ist also der Schlüssel zum Erfolg. Und die datengetriebene Personalisierung ist der Weg dorthin.
Welche Entwicklungen bzw. Herausforderungen auf dem Weg zur Personalisierung sind jetzt zu meistern?
Lohmann: Das Marketing ist in Zeiten des digitalen Umbruchs von einer Vielzahl von Entwicklungen gekennzeichnet. Eine zentrale Entwicklung fällt dabei ins Auge, nämlich die Zunahme der unternehmenseigenen Apps. Denn sie versprechen stationär und online gewonnene Daten in einem Loyalty System zusammenzuzuführen.
Der Handel mit seinen großen Datenmengen ist prädestiniert für die Nutzung von innovativer Big-Data-Technologie, dennoch gibt es einen blinden Fleck im System: häufig fehlen die wichtigen Kundendaten der Fläche. Handelsunternehmen mit Kundenkarte sowie einem hohen Kartenumsatz-Anteil sind an dieser Stelle fein raus. Für alle anderen Händlerinnen und Händler ist jetzt eine innovative Lösung in Sicht:
Eine unternehmenseigene App soll helfen, die Lücke hin zur 360 Grad Sicht auf die Kundschaft zu schließen. Die App dient als Zugang zur Kundschaft, stellt personalisierte Angebotskommunikation bereit, erfasst jeden Warenkorb mit dem der Kundinnen und Kunden an die stationäre Kasse kommt sowie jeden eingelösten Coupon, bindet Payment und andere Services ein.
Bei zahlreichen Marketingchefs steht die App schon heute auf der Agenda, alleine 59 Prozent der befragten CMOs arbeiten derzeit an ihrem Launch bzw. Relaunch*. Das Motto lautet derzeit: „App first!“. Es gibt etliche prominente Beispiele. Allen voran Lidl und dm-drogeriemarkt. So plant der Drogerist, Preise und Sortimente je nach Filiale zu variieren, automatisiert mittels Big Data Software. Mit der Power der KI werden eins-zu-eins Beziehungen aufgebaut, Kundinnen und Kunden werden personalisiert angesprochen. Die App ist u. a. ein Vehikel dafür.
Welche Ziele verfolgen die Handelsunternehmen hinsichtlich der digitalen Kundenansprache?

Cetin Acar, Projektleiter Forschungsbereich IT, EHI, Marlene Lohmann, Leiterin Forschungsbereich Marketing, EHI
Lohmann: Die digitale Welt ist geprägt von einem überbordenden Informationsangebot und die Aufmerksamkeitsspanne der Menschen ist begrenzt. Wie kann das Marketing die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich ziehen?
Eine App auf dem Smartphone der Kundin oder des Kunden kann die Aufmerksamkeit des Einzelnen gegenüber dem eigenen Unternehmen steigern, damit Inhalte zielgenauer vermittelt werden. Allerdings ist der Anspruch an Content gestiegen. 59 Prozent der befragten Handelsunternehmen* arbeiten daran, dass die vermittelten Inhalte nicht auf der Strecke bleiben. Denn ein starker Content und eine starke Story schaffen Relevanz für Kundin und Kunde und sind die Basis für ein erfolgreiches, automatisiertes Ausspielen individualisierter Botschaften.
Wie bewerten die IT-Verantwortlichen im Handel das Thema Individualisierung?
Acar: Die individuelle und personalisierte Kundenansprache liegt bei den IT-Verantwortlichen stets unter den Top-Trendthemen. Dabei ist dies keine Technologie an sich – deshalb sind die Angaben umso bedeutsamer.
Fakt ist aber: Nur mit dem Einsatz von Technologien ist eine kundenspezifische Ansprache möglich. Daten zu sammeln, zu analysieren und natürlich auch Aktionen kontextbasiert auszuspielen, ist anders nicht mehr realisierbar – eine technologische Unterstützung ist somit für die Zukunft zwingend notwendig und wird sich in Form von konkreten Investitionen der Handelsunternehmen niederschlagen.
Welche sind die technischen Voraussetzungen für die Umsetzung von individualisierter Kundenansprache und welche Schwierigkeiten ergeben sich für Unternehmen?
Acar: Mit einer Rekordnennung von 69 Prozent** ist Künstliche Intelligenz für die IT-Verantwortlichen die wichtigste Trendtechnologie.
Die KI ist ein wichtiges – wenn nicht sogar das wichtigste – Werkzeug, um aus den vielen Daten Zusammenhänge zu erkennen und darauf basierend die Kunden individualisiert oder auch personalisiert anzusprechen. Aber vor der „Kür“ kommt die „Pflicht“. Darum finden sich bei den aktuellen und kommenden Projekten auf den ersten Blick eher „langweilig“ erscheinende Themen wie Erneuerung der Infrastruktur und Erneuerung bzw. Optimierung des Warenwirtschaftssystems (WWS). Diese Vorarbeiten sind jedoch notwendig. Nur auf ein stabiles Fundament können die neuen Technologien aufgesetzt werden.
Was macht KI-Technologie im Bereich Individualisierung bereits möglich und wie gut kann die Technologie individuelle Kundenbedürfnisse bereits ermitteln?
Acar: Es gibt viele Anwendungsbereiche für die Individualisierung mit KI. Kundenspezifische Rabatte statt „X-Prozent auf alles“. Individuelle Preise anstatt Preisstaffeln für alle. Chatbots für die Interaktion, die rund um die Uhr auf die Fragen der KundInnen eingehen können. Oder ein „Style-Berater“, der anhand eines Bildes den Stil und die einzelnen Produkte auf dem Bild erkennt und entsprechende Vorschläge macht. Je mehr Rahmendaten erfasst und berücksichtigt werden können, umso wertvoller werden die Vorschläge für die Kundinnen und Kunden.
Wenden die Handelsunternehmen auch mehr Budget für KI auf und welche Entwicklung hinsichtlich der Investitionen in KI ist im nächsten Jahr zu erwarten?
Acar: 1,46 Prozent** vom Nettoumsatz investieren die Handelsunternehmen im Schnitt für ihre IT. Der Wert steigt stetig und wird sich – gemäß der Prognose der Studienteilnehmenden auch in den kommenden Jahren weiter erhöhen. Das liegt unter anderem an der Bedeutung der IT-Abteilung für die Handelsunternehmen: Früher vorrangig in der Dienstleister-Rolle für das Business nimmt sie heute immer mehr die Rolle des Enablers und Innovationstreibers ein. Mutig neue Technologien auszuprobieren und damit potenzielle Innovationen zu nutzen, bietet den Handelsunternehmen einen echten Wettbewerbsvorteil.
*Quelle: EHI Retail Institute / CMO-Studie 2019 / Umfassende Untersuchung von Trends und aktuellen Entwicklungen im Marketing auf der Basis von persönlichen Interviews mit CMO’s von 32 führenden Handelsunternehmen (Nettoumsatz 127 Mrd.)
**Quelle: EHI Retail Institute / IT-Trends im Handel 2019 / Befragung von IT-Verantwortlichen von insgesamt 90 Handelsunternehmen in Deutschland, Österreich und der Schweiz