Wie entwickeln sich die Diebstahl-Zahlen im deutschen Handel? Welche Entwicklung ist im nächsten Jahr zu erwarten?
„Prognose ist bekanntlich die Kunst, sich zu kratzen, bevor man weiß, wo es juckt“. Beim Ladendiebstahl weiß man zwar, dass er kommt, aber natürlich nicht wann und wo und wieviel. Versucht man jedoch die Erfahrungen und Entwicklungen der letzten Jahre in Zukunft zu projizieren, so ist tendenziell ein höherer Warendiebstahl im deutschen Handel zu erwarten.
Es wird mehr geklaut. Die Inventurverluste durch Ladendiebstahl beliefen sich 2018 im deutschen Handel auf 3,75 Mrd. Euro. Der durchschnittliche Warenwert je angezeigten Diebstahl steigt stetig. Beim einfachen Ladendiebstahl betrug dieser 2018 im Durchschnitt 81 € und beim schweren Ladendiebstahl 405 €. Schwere Ladendiebstähle sind in den letzten 10 Jahren um das Zweieinhalbfache gestiegen, von 9.683 in 2008 auf 22.068 in 2018. Hauptproblem ist jedoch die Zunahme des organsierten Ladendiebstahls, der hohe Schäden verursacht und nur sehr selten als solcher erkannt wird, da oft Banden am Werk sind.
Die Erfahrungen der Händler zeigen, dass Diebstähle immer häufiger in Gruppen mit gezielter Aufgabenverteilung durchgeführt werden: Beobachten des Verkaufsraumes, Personal ablenken, Täter abschirmen, Diebesgut deponieren, Ware raustragen sowie der Abtransport von Ware und Tätern sind durch mindestens zwei oder mehr Personen gut durchorganisiert. Derartiges Tatgeschehen zu erkennen, zu dokumentieren und mehrere Täter gleichzeitig zu überführen, ist für den Handel äußerst schwierig. Nach EHI-Schätzungen sind mittlerweile wertmäßig ca. 500 bis 600 Mio. € bzw. rund ein Viertel pro Jahr aller Ladendiebstähle Bandendiebstählen und der organisierten Kriminalität zuzurechnen.
Dem organisierten Diebstahl einen Riegel vorzuschieben, ist besonders schwierig. Oft bleibt nur, die Warenbestände zu verringern oder die massenhafte Regalentnahme von diebstahlsgefährdeten Artikeln zu erschweren. Eine permanente Überwachung von Ware und Verkaufsraum ist teuer und kaum darstellbar. Als effektive Gegenmaßnahme gelten zwar eine robuste Präsenz von Sicherheitspersonal oder eine Kameraüberwachung mit sofortiger Interventionsmöglichkeit beim Tatgeschehen. Beides kann jedoch aus Kostengründen in den meisten Fällen nur temporär in akuten Bedrohungssituationen durchgeführt werden und wird daher selten umgesetzt.
Ein anderer Aspekt ist geprägt durch die Onlinekonkurrenz: Im stationären Handel steigt bei gleichbleibenden Diebstählen, aber geringeren Umsätzen auf gleicher Fläche die prozentuale Inventurdifferenz. Im Einzelfall kann das existenzgefährdend werden.
Was tut sich im Bereich der Prävention? Was wird dahingehend im nächsten Jahr besonders wichtig? Worin liegen diesbezüglich für die Handelsunternehmen die größten Herausforderungen?
Präventions- und Sicherheitsmaßnahmen kosten den Handel jährlich rund 1,45 Milliarden Euro. Veränderungen im stationären Handel können den Ladendiebstahl begünstigen. Insbesondere durch verlängerte Öffnungszeiten bei gleichzeitig geringer Personalpräsenz bieten sich mehr Diebstahlsmöglichkeiten. Auch ein verstärkter technischer Sicherheitsaufwand kann dies nur zum Teil kompensieren, denn eine „Flächenaufsicht“ ist nicht mehr gegeben.
Um der Online-Konkurrenz zu begegnen, macht der stationäre Handel seine Geschäfte attraktiver z. B. durch offene Ein- und Ausgangsbereiche, durch den Verzicht auf Kundenführungen, durch die Hinzunahme gastronomischer Konzepte bis hin zur Einführung von Self-Checkout-Lösungen. Dies alles sind Entwicklungen, die die Abgeschlossenheit von Verkaufsflächen auflösen und somit zusätzlich Tatgelegenheiten eröffnen. Diesen Herausforderungen wird sich der stationäre Handel auch zukünftig – personell und technisch – stellen müssen, um den Warenschwund zu begrenzen.
Vor allem der ständigen Aufmerksamkeit der Beschäftigten kommt eine Schlüsselrolle bei der Bekämpfung von Ladendiebstählen zu. Erfahrungen zeigen, dass die Sensibilität des Personals jedoch ständig geschult werden muss und Sicherheitskonzepte permanent überarbeitet werden müssen.
Für Technik gilt: Investitionen in Sicherheitssysteme müssen sich mittelfristig für den Handel rechnen. Daher wird nur so viel investiert, wie auch an Einsparungen durch geringere Inventurdifferenzen zu erwarten sind. Bei aller eingesetzter Technik steht zunächst immer die Abschreckung im Vordergrund. Es geht darum, das Risiko erwischt zu werden für Klauende zu erhöhen. Vor allem der Einsatz von Kamerasystemen hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Aber auch Warensicherungssysteme unterschiedlicher Art sind in vielen Branchen und an prekären Standorten mittlerweile unverzichtbar.
Die Entscheidung für Sicherheitssysteme erfolgt immer unternehmensindividuell. Dazu bieten sich Artikelsicherungsmaßnahmen in Form von elektronischen Warensicherungen oder mechanischen Sicherungen, aber auch der Einsatz von diebstahlhemmenden Verkaufsträgern an. Es hängt vom Standort, von der Diebstahlsgefährdung des Sortiments, der Warenpräsentation, der Personalpräsenz, den örtlichen baulichen Gegebenheiten und einer Fülle anderer Faktoren ab. Letztendlich entscheidet die Wirtschaftlichkeit von Sicherungstechnik über deren Einsatz.
Teure Technik lässt sich nicht immer realisieren und hilft allein oft wenig. Deshalb sollten einfache Vorkehrungen wie übersichtliche Gang- und Regalanordnungen, zwingende Kundenführungen, eine ausreichende Beleuchtung auf der gesamten Verkaufsfläche, die Platzierung gefährdeter Artikel in Sichtweite des Personals sowie die Anbringung diebstahlvorbeugender Hinweisschilder und die Verwendung diebstahlhemmender Verkaufshilfen obligatorisch sein. Personalpräsenz ist jedoch der wichtigste Faktor. Technik allein kann nur Diebstähle erkennen, aber keine Tatbegehenden stellen.
Wie gehen Handel und Sicherheitspersonal mit dem wachsenden Gewaltpotenzial um?
In der Tat gibt es eine Reihe von Indizien, dass das Gewaltpotential bei Ladendiebstählen zugenommen hat. Beispielsweise zeigt der Securityreport der Unfallversicherung (VBG) eine Zunahme der „Arbeitsunfälle durch Konfrontation“ bei Warenhausdetektiven. Einige Handelsunternehmen verpflichten beispielsweise schon heute ihr Sicherheitspersonal stichsichere Westen zu tragen.
Richtig in Gewaltsituationen zu reagieren, kann nur in Verhaltenstrainings geschult werden. Dazu gehören Deeskalationsstrategien, situative Sensibilität zur Eigensicherung, aber auch Rechtssicherheit bei der Ansprache von Tatverdächtigen sowie die Motivation zum Hingucken und Eingreifen ohne Selbstgefährdung. Dies ist nur dann gegeben, wenn ausreichende Kenntnisse vorhanden sind. Daher wird die Schulung des Personals– egal ob handelseigenes oder Dienstleister – zunehmend wichtiger, um Gewalt-Eskalationen zu vermeiden und Schaden von Leib und Leben abzuwenden.
Frank Horst, Leiter Forschungsbereich Inventurdifferenzen + Sicherheit, EHI
Köln, 12. Dezember 2019